Leseprobe 2

Das erste Mal im Fellheim

 

Zur gleichen Zeit im Tierheim, genannt „Das Fellheim“ des Dorfes Weidenhain.

 

Der 70jährige Walter Irmler ist seit zwölf Jahren die rechte Hand von Regina Scheffler. Manchmal etwas brummig und stur, dabei aber immer gradlinig, ehrlich und zuverlässig, hat er vor allem ein großes Herz für Tiere. Soeben kommt er mit Futterspenden aus der Stadt ins Fellheim zurück.

 

Als er gerade durch das Gittertor fahren will, sieht er einen scheinbar herrenlosen Schuhkarton an der Ecke der Einfahrt stehen, um den eine Paketschnur geknotet ist. Ihm schwant augenblicklich nichts Gutes. Er hält sofort an, steigt aus und eilt zu dem Karton. Schon einige Schritte bevor er ihn erreicht, hört er ein jämmerliches helles Mauzen. Als er den Karton vorsichtig öffnet, bestätigt sich sein Verdacht. In ihm liegen drei noch sehr kleine Katzenbabys. Dicht aneinander gekuschelt, versuchen sie der winterlichen Eiseskälte zu entkommen, doch ihre Energie ist fast aufgebraucht. Ihre Stimmchen sind nur noch ein Krächzen, die kleinen Bäuche eiskalt. Übel riechender Durchfall ist im Inneren des Kartons verschmiert. Walter Irmler streicht ihnen mit einem Finger behutsam übers Fell, nimmt den Karton an sich und läuft mit schnellen, energischen Schritten ins Büro des Tierheims. Sein Auto lässt er unbeachtet mit laufendem Motor am Tor stehen.

 

Die Tierheimleiterin und Vorsitzende des Tierschutzvereins Weidenhain sitzt in ihrem Büro. Regina Scheffler, der man die ehemalige Balletttänzerin kaum noch ansieht und die lange Zeit als Krankenschwester tätig war, ist Mitte sechzig. Die resolute Witwe mit dem praktischen grauen Kurzhaarschnitt, die immer und überall mit zupacken kann, lässt sich auch sonst nicht die Butter vom Brot nehmen, vor allem, wenn es um „ihre“ Tiere geht. Wie so oft sitzt sie in ihrem Büro. Das ist eher eine gehoben, liebevolle Bezeichnung für den Raum, denn zwischen Transportkäfigen, Hunde- und Katzenleinen, Halsbändern, Winterdecken, Katzenkörben und jeder Menge Akten und Papiere hat sie sich einen Platz für ihren bereits in die Jahre gekommenen Computer, das Telefon und die Schreibtischunterlage abgeteilt. Auch für einen langen Tisch mit Stühlen für Beratungen mit den Mitarbeitern hat sie Platz geschafft, obwohl der Tisch momentan mit Tierheimutensilien voll beladen ist. Hinter ihrem Schreibtisch stehen zwei alte abgewetzte Schränke. In dem einen türmen sich weitere Akten, im anderen liegen Dinge, die für den Betrieb im Tierheim unerlässlich sind. Decken, Halsbänder, Futterergänzungsmittel, Medikamente, Schüsseln und vieles andere mehr.

 

Auch auf den Schränken türmen sich Transportbehälter und Handtücher und daneben befindet sich ein Waschbecken mit einem kleinen Spiegel darüber und einem Warmwasserboiler.

 

Regina Scheffler sitzt vor ihrem Computer und starrt auf den Bildschirm. Sie ist gerade dabei ihre E-Mails zu sichten. Noch vor Jahresfrist hätte sie nie geglaubt, mit dem "komischen Kasten", wie sie ihn auch heute noch nennt, Freundschaft zu schließen, ja dass er ihre Arbeit sogar erleichtern würde. Zwischendurch telefoniert sie immer wieder: Spendengelder auftreiben, Tierarzttermine koordinieren, Auseinandersetzungen mit den Behörden, vornehmlich ums liebe Geld, Gespräche mit Tiersuchenden und besorgten Menschen, die Misshandlungen von Tieren melden, gehören zu ihren Alltagsaufgaben. Und immer wieder die jährlichen Anfragen vor Weihnachten, per Mail und telefonisch nach "lebenden Geschenken".

Viele wissen nicht, was sie schenken sollen und so soll ein Tier die Überraschung zum heiligen Abend retten.

Und obwohl das „Fellheim“ aus allen Nähten platzt und immer chronisch pleite ist, ist Regina Scheffler mit der Abgabe von Tieren sehr zurück haltend. Sie hat in all den Jahren ihre Erfahrungen machen müssen. Sind die Feiertage erst vorbei und die Urlaubszeit gekommen, merken viele „Tierfreunde“ sehr schnell, dass die „Geschenke“ Arbeit machen und sie werden dann im günstigsten Fall zurück gebracht, oft einfach ausgesetzt, während der Urlaubsreise allein in der Wohnung zurück gelassen oder ihnen wird noch Schlimmeres angetan.

Dass Tiere ständige Zuwendung, Erziehung und einen geregelten Tagesablauf brauchen, egal ob es All- oder Feiertag ist, dass sie Geld kosten wie Hundesteuer, Futter, Zubehör, Versicherungen und besonders die Besuche beim Tierarzt mitunter gehörig zu Buche schlagen können, wird bei der Anschaffung oft nicht bedacht. Die Anforderungen an die Erziehung, vor allem von Hunden, die proportional mit der Größe des Tieres wachsen, stellen besonders an die unerfahrenen Herrchen oder Frauchen hohe Anforderungen, damit sie ihnen nicht eines Tages auf der Nase herum tanzen. Viele sind dann schnell überfordert. Auch hin und wieder ein Pfützchen oder Häufchen und Erbrochenes auf dem häuslichen Fußboden oder manch angenagtes Tischbein führt mitunter dazu, sich wieder gegen den neuen Hausgenossen zu entscheiden.

 

„Nein, das machen wir immer so, genauso wie die anderen Tierheime auch. Das ist in allen Tierheimen Gesetz. Wir geben unsere Tiere nicht einfach so ab, das geht nicht von heute auf morgen. Wir müssen schon schauen, ob sie zueinander passen und ob unsere Tiere sie mögen. Und außerdem brauchen wir auch die Einverständniserklärung ihres Vermieters, auch in ihrem eigenen Interesse. Ja das ist so...tut mir leid....nein, anders geht das wirklich nicht, auch nicht für eine größere Spende, danke, aber sie können gerne einmal vorbeikommen und vielleicht mit einer Tierpatenschaft beginnen. Keine Zeit? Na dann schönen guten Tag noch“, Regina legt den Hörer mit Schwung auf und atmet hörbar aus. Sie ist sauer.

„Jedes Jahr dasselbe. Wenn ich das schon höre, von wegen keine Zeit", schimpft sie vor sich hin.

 

Von draußen hört sie ein rumpelndes Geräusch. Gleich darauf fliegt die Tür auf. Zuerst sieht die Tierheimchefin einen kleinen Karton, dann folgt die gute Seele vom „Fellheim“, Walter Irmler.

„Du wirst es kaum glauben, Walter", empfängt sie ihn gleich "Jeder zweite Anrufer will ein Tier als Weihnachtsgeschenk und auch mein Computer ist voll von solchen Anfragen, ich weiß überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf steht."Sie stutzt „Was bringst du denn da?“ fragt sie verwundert. „Schau selbst, manchmal schämt man sich, der menschlichen Art anzugehören“, antwortet der resigniert und wütend zugleich. Regina ahnt, worum es geht und stellt den Karton vorsichtig vor sich auf dem Schreibtisch ab. Als sie ihn öffnet, schlägt sie die Hände vor den Mund. Teilweise vor Entsetzen, aber auch wegen des penetranten Durchfallgeruchs, der dem Kartoninneren entströmt. Die drei getigerten kleinen Katzenbabys zittern vor Kälte und versuchen ängstlich noch dichter zusammen zu rücken. Das grelle Licht, lässt sie ihre verklebten Augen noch enger zusammen kneifen, denn sie sind mit Entzündungsschleim verklebt. Sie schniefen hörbar laut beim Atmen und ein herzzerreißendes Mauzen dringt durch den Raum. Der Tierheimchefin steigen die Tränen in die Augen. In all den Jahren seit sie im Fellheim und für den Tierschutz tätig ist hat sie sich an die Verantwortungslosigkeiten und Grausamkeiten einiger Mitmenschen nicht gewöhnen können. „Die standen direkt an der Mauer beim Tor um die Ecke, nur durch Zufall habe ich sie entdeckt“, sagt Walter „Wer weiß, wie lange der Karton da schon gestanden hat. Die Kätzchen sind fast erfroren, ich möchte so ein Schwein mal direkt erwischen, ich glaube ich würde mich vergessen“, stößt Walter grimmig zwischen den Zähnen hervor. „Das würde wohl jedem normalen Menschen so gehen“, ist sich Regina sicher „Aber wenigstens haben der oder diejenigen den Karton vors Tierheim gestellt, sie hätten ihn auch in irgendeine Mülltonne oder in einen Fluss werfen können und das wäre für die Kätzchen tragisch ausgegangen. Sieh´s positiv“, gibt Regina zu bedenken. „Haste auch Recht“, gibt Walter Irmler zu. „Ria“, ruft die Tierheimchefin aufgeregt, die in der Nähe gewesen sein muss, denn augenblicklich steckt sie ihren rothaarigen Lockenkopf zur Tür herein. „Was ist denn los, was schreist du denn so?“ fragt sie „Ich mach grad das Futter fertig“. „Hier schau dir das an, die müssen ganz schnell unter die Wärmelampe im Quarantäneraum, ich ruf den Doktor gleich an, sonst schaffen sie es nicht“.

 

Ria Vinzelberg, eine engagierte, eigentlich immer gut gelaunte Tierheimmitarbeiterin, Mitte vierzig, nimmt vorsichtig den Karton und streichelt die kleinen Katzen „Das gibt´s doch einfach nicht“, ist sie empört „Was gibt es nur für Leute. Kommt meine Süßen, jetzt wird es gleich warm und eine kleine Milch bekommt ihr auch. Ihr habt doch Hunger, was...?“ „Bloß keine Milch, nur etwas Tee als Flüssigkeit und auch sonst nichts“, sagt Regina streng „Wir warten erst auf den Doktor“. „Ok“, antwortet Ria und entfernt sich schnell in Richtung Quarantäneraum.

Walter geht inzwischen notgedrungen zur Tagesordnung über.

„Der Supermarkt hat wieder gesammelt. Die erste Fuhre hab ich gleich mitgebracht, ist noch mehr da. Man merkt, es wird Weihnachten.“ „Gott sei Dank, das haben wir auch bitter nötig. War in letzter Zeit etwas knapp. Hier klingeln mal wieder die Telefone heiß, alle wollen Hunde oder Katzen für Weihnachten, wie jedes Jahr. Aber trotzdem gilt ab sofort wieder der alljährliche Abgabestopp. Sag den anderen schon mal Bescheid, wir treffen uns um sechs dann hier.“ „Vorweihnachtliche Lagebesprechung?“ „Allerhöchste vorweihnachtliche Lagebesprechung!“ Walter salutiert und geht den anderen Bescheid sagen. Das Telefon klingelt schon wieder. „Das Fellheim Weidenhain. Regina Scheffler am Apparat…“, hört er noch beim Hinausgehen.

 

Erwin und Frank fahren durchs Dorf, es ist bereits früher Nachmittag. „Ohne Sie hätte ich das heute nicht so einfach geschafft“, beginnt der alte Doktor das Gespräch. „Ein Einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt – sagte schon der alte Goethe. Man wird eben doch älter. Bei Pferden und Kühen fällt mir die Arbeit doch zunehmend schwerer, Danke nochmals.“ Dr. Marquardt wendet seinen Blick von der Straße und blickt Frank von der Seite an. Der versucht dem Blick des alten Tierarztes auszuweichen, schaut sich die Umgebung an und nickt nur stumm.

Erwin zeigt auf einen umzäunten Komplex am Ende des Dorfes. Gedämpftes Gebell dringt ins Auto. „Hier ist unser Tierheim, genannt das „Fellheim“. Ich müsste da noch mal hin. Ein paar Wochen vor Weihnachten ist da immer viel los. Sie haben doch noch etwas Zeit, oder?“ Frank nickt „Wenn wir schon mal da sind...!“

 

Kurz darauf biegen sie in die Einfahrt des Tierheims ein. Mehrere Hunde sind im Auslauf. Einige kommen bellend auf die Neuankömmlinge zu, andere bleiben misstrauisch im Hintergrund, wieder andere schleppen Äste oder Spielzeug durchs Gehege oder balgen sich untereinander.

Der alte Doktor geht an den Zaun und redet beruhigend auf die Tiere ein. Manche kennt er mit Namen, begrüßt sie ruhig und freundlich. Frank steigt aus dem Wagen und schaut sich neugierig um. Trotz der vereinzelten Pfützen und des Matsches macht das Gelände einen sehr gepflegten Eindruck, wenn auch hier und da einige Gebäude sanierungswürdig sind. Walter Irmler, in Kittel und Gummistiefeln, einem alten speckigen Hut auf dem Kopf und mit dicken Handschuhen kommt mit einer Schubkarre gerade um die Ecke. Sofort wenden sich die Hunde von den Neuankömmlingen ab und laufen auf den älteren Mann zu. In der Karre befinden sich Eimer, Schaufel und Besen. Er will die Gehege sauber machen. Darauf legt die Chefin größten Wert. Als er die beiden Männer sieht, verzieht er die Mundwinkel zu einem freundlichen Lächeln und entblößt dabei seine noch immer kräftigen, weißen Zähne. „Hallo Doc. Gut, dass Sie heute noch vorbeischauen. Die Chefin wollte schon anrufen. Wir haben einige Neuzugänge, die unbedingt noch untersucht werden müssen!“ Erwin stöhnt leise, zieht die Augenbrauen hoch und blickt entschuldigend zu Frank „So ist es immer. Hier ist immer Notstand und wer hier arbeitet sollte sich meistens auf kostenfreies Arbeiten einrichten. Sozusagen –pro bono. Hier lernt man schnell, ob der Beruf Job oder Berufung ist.“ Dann wendet er sich an Walter Irmler und winkt ihm zu „Hallo Walter, ich dachte mir schon, dass ich nicht ganz umsonst hierher komme – nah was gibt es denn diesmal!“ stapft er voran. Frank schaut sich um und wieder leicht genervt zur Uhr. Es ist bereits halb zwei und die Dämmerung setzt bald ein. Im Dunkeln bei dem Wetter möchte er nicht weiter fahren.

 

An der Tür zum Tierheimhauptgebäude hört er Stimmengewirr. Eine ist unüberhörbar weiblich. Es ist die der Tierheimleiterin Regina Scheffler. Sie begrüßt Dr. Marquardt ausgesprochen herzlich. Da sie klein und untersetzt ist, hat sie mit der Umarmung etwas Mühe. „Kommt rein in die gute Stube!“ schiebt sie den Doktor durch die Tür und schaut fragend in Richtung Frank „Der ist uns gestern „zugelaufen“, scherzt der Doktor und löst damit allgemeines Gelächter aus.

„Scherz bei Seite. Das ist Frank Lehnert, genauer gesagt Dr. Frank Lehnert, Tierarzt und...“, betont er nochmals ausdrücklich und zu Frank gewandt „ ... vielleicht mein Nachfolger!“

 

Frank schaut leicht verblüfft und etwas überrumpelt drein, doch der alte Doktor lässt sich nicht irritieren und klopft dem jungen Kollegen auf die Schulter. „Leben ist was uns zustößt, während wir uns was ganz anderes vorgenommen haben- Henry Miller“, hat er wieder einen passenden Spruch parat. „Das ist Regina Scheffler, seit zwölf Jahren Tierheimleiterin und Vorsitzende des Tierschutzvereins hier in Weidenhain und eine Kriegerin vor dem Herren für die Rechte der Tiere!“ zwinkert er Frank zu. Inzwischen haben sie das kleine Büro der Tierheimleiterin erreicht.

 

Dort haben sich bereits zwei weitere Angestellte des Tierheims eingefunden: Thomas Uhlig, genannt Ulle, ein einfach strukturierter, aber fleißiger Mittzwanziger, der hier als ABM-Kraft beschäftigt ist und Ria Vinzelberg, die lustige und quirlige Person, der die knallroten, kurzen lockigen Haare momentan nach allen Seiten stehen.. Frank findet sie augenblicklich sympathisch.

Regina bahnt sich einen Weg durch ihr Büro zu einem Schrank und holt einige Gläser heraus. „Na dann wollen wir mal auf deinen großen, und das meine ich wörtlich, Nachfolger anstoßen“

Frank hebt abwehrend die Hände, Erwin bedeutet ihm mit den Augen, das Spiel mitzuspielen. Frank lässt die Arme resigniert wieder sinken. „Es ist ja schließlich bald Weihnachten, da kann man sich ja ausnahmsweise ein ganz winziges Gläschen genehmigen“, brummt Erwin in das allgemeine Stimmengewirr.

 

Inzwischen hat Regina die Gläser mit einem Cognac gefüllt und ihres erhoben „Auf die Tiere dieser Welt, auf baldige geruhsame Feiertage und...“, prostet sie in Richtung von Frank „...ihren erfolgreichen beruflichen Einstieg bei uns.“

Inzwischen ist auch Walter dazu gestoßen und bekommt auch ein Glas.

Alle schließen sich den Wünschen an und stellen sich beim vermeintlich neuen Tierarzt vor. Frank sagt nichts mehr dazu. Er hat resigniert. Zumindest für heute und nur in dieser Beziehung.